Gastbeitrag: Hocheffektives Faszientraining

Gastbeitrag: Dr. Kornelius Kraus [PhD, MSc, MA]

Hamstring-Probleme löst man in der Regel nicht durch konzeptlose Dehnübungen oder einfache exzentrische Übungen, sondern durch die Wiederherstellung funktionaler Muskelzüge. Dies zielt auf die Erzeugung einer günstigeren Körpergeometrie ab. Zudem ist bei der Übungsauswahl und Intensität darauf zu achten, dass die Hypertrophie und die Stärkung des Bindegewebes begünstigt wird. Bei Sportlern sollten sie die Belastungsintensitäten der Sportart simulieren. Neben dem Training muss auch die Versorgung mit unterstützenden Baustoffen gewährleistet sein.

Wenn der Begriff Faszientraining fällt, dann kommt den Meisten zunächst Foamrolling in den Sinn. Dies ist allerdings weitgefehlt, denn mit jeder Muskelaktion belasten wir auch das Bindegewebe: Die in den Muskelzellen erzeugte Kraft wird über das Bindegewebe zur nächsten Muskelzelle, zur Sehne bis hin zum Knochen transportiert. Eine weitere Funktion des Bindegewebes ist die Umhüllung von Muskel- und Nervenzellen, Gefäßen und Organen.

Aus diesen Funktionen leiten sich auch die Ziele von faszienorientieren Trainingsmaßnahmen ab. „Faszientraining“ sollte demzufolge zur Verbesserung der Muskelkommunikation, Elastizität, Spannkraft, metabolischen Versorgung und Stabilität der Organe führen. Da wir bei faszialen Anpassungsprozessen strukturelle Metamorphose anstreben, sollten wir dafür auch ausreichend Zeit einplanen.

Das Aktin und Myosin der Muskeln ist sozusagen das Kollagen und Elastin des Bindegewebes. Die Quantität und Vernetzung dieser Strukturproteine bestimmt wesentlich die Qualität des Bindegewebes. Die Qualität bzw. der Zustand des organumhüllenden Bindegewebes lässt sich in Form von Schmerz durch Seitenstechen oder Muskelkater erfahren. Auch die sogenannte Orangenhaut (Cellutite) deutet auf eine reduzierte Bindegewebsqualität hin.

Eine hohe Bindegewebsqualität hingegen zeigt sich in eleganten und leichtfüßigen Bewegungen, die die Spitzenkönner ihrer Sportart von dem Rest unterscheidet. Diese Eleganz ist ein Indikator für eine sehr hohe Effizienz des Bewegungssystems.

Auf muskulärer Ebene zeigt sich eine reduzierte Bindegewebsqualität in Form von fehlender Elastizität, was sich an einer „verkürzten“ ischiokruralen Muskulatur erkennen lässt. Dies ist allerdings kein direkter Indikator für eine erhöhte Verletzungsanfälligkeit. Vielmehr lässt sich hier von einem funktionellen Defizit sprechen: Fehlende Elastität der ischiokruralen Muskulatur begünstigt ungünstige Muskelzüge im Hüftgelenk, welche sich wiederum negativ auf die Körpergeometrie auswirken können. Da dadurch auch die Funktion des autonomen Nervensystems eingeschränkt wird, beeinflusst eine reduzierte Bindewegebsqualität nicht nur die Trainierbarkeit und Leistungsfähigkeit, sondern auch regenerierende Prozesse.

Daraus leiten sich die Ziele einer prophylaktischen und leistungsorientierten Trainingsintervention ab. Eine Trainingsmaßnahme sollte:

  1. Die Regulationsmechanismen durch das autonome Nervensystem unterstützen
  2. die Koordination verbessern

Was heißt das nun konkret? Mit Dehnen und Rollen verbessern wir die Muskellänge. Was jedoch nicht beeinflusst wird, ist die Koordinationsfähigkeit, sodass zu Beginn der Trainingsmaßnahme häufig die Gelenkstabilität reduziert wird, womit sich kurzfristig sogar die Verletzungsanfälligkeit erhöht! Daher ist die Dehnung und Kräftigung der Hüftflexoren bei  bestehenden Hamstring-Problemen sinnvoll, um eine verbesserte Körpergeometrie in Ruhe und in der anforderungsspezifischen Situation zu schaffen.

Wie geht das?

Mit exzentrischem Training lassen sich Muskellänge und Kraft in der Muskellänge verbessern. In der Therapie wird exzentrisches Training häufig bei geringer Intensität durchgeführt. Dies macht Sinn um die Strukturen aufzubauen. Um prophylaktische und leistungssteigernde Effekte mit exzentrischen Belastungen zu erzeugen sind gezielte mechanische Überlastungen zu bevorzugen.

Warum?

Der Körper ist Teil der Evolution und die Evolution bevorteilt effiziente Systeme zum Beispiel auf Ebene des Energiebedarfs. Eine Raupe kann nicht fliegen, aber mithilfe der Metamorphose entsteht aus der Raupe ein Schmetterling mit neuen Funktionen. Ähnlich verhält es sich bei Patienten oder Sportlern. Hierfür reichen gezielte Trainingsreize, das Zuführen von ausreichend Energie und erholsamer Schlaf aus um neue oder effizientere Funktionen zu erlernen.

Muskelaktion mit hohem Energieverbrauch und hohem Strukturverbrauch

Bei klassischen Kraft- und Spielübungen oder beim Lauf- und Sprinttraining wirkt auf den Körper die Schwerkraft. Vereinfacht gilt, dass sich gegen Schwerkraft verkürzende Muskeln mehr Energie benötigen. Demzufolge wirkt sich die exzentrische Muskelaktion mehr auf die Muskel- und Bindegewebsproteine aus als isometrische oder konzentrische.

Bei herkömmlichen Bewegungen und Trainingseinheiten wird die ATP-Versorgung zum Limitationsfaktor. Eine reduzierte Bindegewebsqualität kann den Vorgang beschleunigen, da sie die Energieversorgung einschränkt. Denn durch trainingsinduzierte Mikrotraumata schwellen Muskelzellen an und drücken Kapillargefäße ein, sodass die Mikrozirkulation reduziert wird. Dies spricht für den gezielten Aufbau der Bindegewebsstruktur unter hoher Last und Zugspannung, um Steifigkeit und gleichzeitig hohe Elastizität zu erzeugen.

Beim exzentrischen Überlasttraining wird das physikalische Prinzip der Massenträgheit zur Simulation hoher Belastungsspitzen und gezielten Überlastung des Muskel- und Bindegewebsapparats ausgenutzt. Der hierdurch entstehende Muskelkater z.B. in den Hamstrings oder Hüftflexoren ist ein Indikator für guten Trainingsstress. Die nun entstanden strukturellen Schäden müssen repariert werden, sodass ein erhöhter Bedarf an Proteinen, Substraten und Vitaminen besteht.

Beispielsweise ist Vitamin C unter anderem zur Stabilisierung von Kollagen wichtig, während Vitamin D eine wesentliche Rolle bei der Regulierung des Calcium-Spiegels und beim Knochenaufbau haben soll. Zudem ist die zeitliche Dynamik struktureller und energetischer Anpassungen zu steuern, da strukturelle Reparaturmaßnahmen mehr Zeit benötigen als die Wiederauffüllung von Energiedepots. Anhand des autonomen Nervensystems lässt sich dies durch eine zunächst erhöhte sympathische und später parasympathische Aktivität erkennen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Rollen und Dehnen positiv auf die Muskellänge auswirken. Um jedoch Strukturen effizient auszurichten und neu aufzubauen sowie die Kraft und Koordination zu verbessern, ist exzentrisches Training eine effektives Mittel. Eine hohe Elastität des Bindegewebes lässt sich mit exzentrischen Überlasttraining erreichen, vorausgesetzt, die energetische Versorgung von Muskel- und Bindegewebe ist gewährleistet. Letztendlich begünstigt exzentrisches Training durch positive Beeinflussung der Bindegewebsqualität und Körpergeometrie auch die Effizienz des autonomen Nervensystems und damit die Regenerationsfähigkeit des Körpers.

Dr. Kornelius Kraus